Da war dieser Mann, der hatte eigentlich alles, und alles, was er hatte, fand er ganz fürchterlich. Das Geld, die klimatisierten Räume, die sogenannten Freunde, mit denen er teure Weine trank, den großen Tisch in seinem großen Büro, die goldene Uhr an seinem Handgelenk; dieser Dinge und ihrer vermeintlichen Kultur war er allmählich überdrüssig geworden. Seine Frau und seine Eltern, sie waren immer in seiner Nähe, aber immer weniger nah, die Distanzen wuchsen mit jedem Tag. Die flachen Gesichter und nachbearbeiteten Fotos, er mochte sie nicht mehr sehen, das Geschrei und Geflüster und die leeren Sätze mochte er nicht mehr hören. Bei einem Fest mit zahlreichen geladenen Gästen hörte er schließlich auf, das Geschnatter und das Klirren der Gläser zu ertragen. Ziemlich betrunken und mit überlaufenden Augen saß er allein vor der Hintertür in der kühlen Nacht und beschloss, seiner Umwelt fortan nur noch mit tauben Ohren und stummer Zunge zu begegnen.
Am Anfang war die Betroffenheit vielleicht sogar echt, doch sehr schnell entlarvte er die Mienen der nächsten Mitmenschen als ziemlich laienhaftes Schauspiel. Er trennte sich von seiner Frau, kündigte seine Arbeitsstelle, warf sein Mobiltelefon und sein Adressbuch in den Müll, doch noch immer schien es ihm, als würde die ganze Welt auf ihn einreden. Also zog er irgendwann in ein Wohnheim für Gehörlose. Er bekam ein kleines Zimmer, ziemlich schmucklos, mit zwei Fenstern und einem winzigen Balkon, doch mehr brauchte er gar nicht, und die wenigen Quadratmeter waren größer und reicher als alle Paläste der Welt. Zum ersten Mal konnte er seine eigenen Gedanken wieder hören, das Rauschen des Blutes und den Schlag seines Herzens.
Eines Tages, er war seit einigen Wochen im Wohnheim zu Hause, saß auf einer der Holzbänke im kleinen Park vor dem Gebäude eine Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie war in seinem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger als er. Sie trug ein schlichtes Baumwollkleid, ihre Füße waren nackt, ihre langen Haare tanzten zaghaft im Wind, das Licht spielte mit den Sommersprossen in ihrem Gesicht. Sie las ein Buch ohne Umschlag und war wunderschön. Vorsichtig trat er zu ihr hin und räusperte sich. Natürlich reagierte sie nicht, schließlich lebte sie im Gegensatz zu ihm aus gutem Grund in einem Wohnheim für Gehörlose. Erst als er sich ein wenig vorbeugte, bemerkte sie ihn. Er versuchte, sie mit Handbewegungen zu fragen, ob er sich neben sie setzen dürfe. Offensichtlich hatte sie ihn richtig verstanden, denn sie lächelte und nickte. Dann saßen sie nebeneinander, ganz still. Sie las, er schaute sie an, sie blickte auf und zu ihm hin, er fühlte sich ertappt und konnte sich dennoch nicht abwenden. Dann schloss er die Augen, und als er sie nach einigen Sekunden wieder aufschlug, sah sie ihn an, noch immer oder erneut, und für einen Moment setzte die Schwerkraft aus.
Seine Rolle als tauber und stummer Mensch spielte er noch nicht allzu lange und ziemlich schlecht, der Gebärdensprache war er höchstens in Ansätzen mächtig. In den ersten Tagen nach der Begegnung auf der Parkbank beschränkte sich die Kommunikation zwischen der wunderschönen Frau und ihm deshalb auf ein mitunter wildes Gestikulieren und geschriebene Sätze auf Notizblöcken. Trotzdem stellte sich bald eine außergewöhnliche Vertrautheit ein. Er glaubte jedes Wort, das er las, er glaubte jedes Wort, das er schrieb. Und er glaubte ihren Augen. In ihren Augen erkannte er jene Tiefen, die er bisher für Illusionen hielt. In ihren Augen entdeckte er das Unbeschreibliche. In ihren Augen sah er sich selbst.
Im Laufe seines Lebens hatte er gelernt, im richtigen Moment die richtigen Worte zu sagen. Seine Stimme war das Instrument, mit welchem er die Sprache zum Klingen bringen konnte. Und jetzt, da ihm nach den schönsten Melodien zumute war, brachte er keinen Ton hervor, durfte es nicht. So gerne wollte er ihr sagen, wie er sich fühlte, wollte mit gesprochenen Worten ausdrücken, was er empfand, denn er empfand es zum ersten Mal. Und so gerne wollte er ihre Stimme hören können, wollte hören, wie sie seinen Namen sagte. Doch sie konnte nicht sprechen. Und er konnte nicht reden.
Bei seiner Anmeldung im Wohnheim hatte er nicht die Absicht, längere Zeit zu bleiben, der Aufenthalt wie auch die vorgespielte Gehörlosigkeit an sich waren wohl eine Art Sabbatical, eine Auszeit, um reinen Tisch zu machen. Doch nun saß ihm an diesem Tisch diese wunderschöne Frau gegenüber, hielt seine Hand und blickte ihn an, während die schreienden Gedanken in seinem Kopf den Schlag seines Herzens übertönten. Er wusste nicht, ob sie verstehen würde, dass er mit der kleinen Lüge der großen Lüge hatte entkommen wollen. Er wusste nicht, ob er sie verlieren würde, wenn er die Wahrheit sagte, er wusste nicht, ob sie ihm glauben könnte, dass es für ihn nur eine Wahrheit gab, und er wusste nicht, welche Wahrheit sie sehen würde. Doch er wusste, dass sie in seinen Augen lesen konnte. Also machte er sie zu. Nur für einen Moment. Bis das Geschrei in seinem Kopf vorüber war.
ich habe nichts gegen das Wort Sabbatical in Deinem Text, denn ich übersetzte es für mich während ich las
mit „Aus seinem bisherigen Leben hinausgehen, in etwas sehr Anderes hineingehen“, um zu erkennen, wo er hinmöchte, was ihm tatsächlich fehlt, bzw. was ihm alles zu viel ist, im sogenannten Wohlleben, warum er sich dermaßen fehl am Patze fühlt, obwohl es doch immer seiner war… Er war allem überdrüssig, was es da gab, er fühlte sich überfordert, zu vielen unverdaubaren Reizen ausgesetzt, also stahl er sich hinaus… Er nahm sich in gewissem Sinne ein Sabbatical.
Auszeit wäre viel zu einfach gewesen
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Liebe Bruni, es freut mich sehr, dass dir das Wort Sabbatical passend erscheint, und deine Ausführungen räumen auch bei mir die letzten Zweifel aus… Vielen Dank!
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Das freut mich sehr *g*
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letzte Woche in der City zwei gehörlose Frauen vor mir, fliegende Hände, sie waren in ein intensives Gespräch vertieft. Sie sahen sich immer wieder in die Augen. Die Gebärdensprache erschien mir stets als eine der ausdrucksstärksten Formen der Verständigung.
Deine berührende Geschichte erinnerte mich an diese Begegnung und wie beeindruckt ich war, immer wieder bin, wie viel auch ohne Worte durch Blicke und mit Körpersprache ausgedrückt werden kann.
Mit unseren Innenstimmen sind wir allein, und sie können so laut sein, dass sie, auf welche Weise auch immer zum Gegenüber wollen und dann findet sich ein Ausdruck, wenn es doch so wichtig ist, was mitgeteilt werden soll…
Fehlt einer unserer Sinne, werden wir uns der vorhandenen umso bewusster…
ich frage mich gerade, wie in der Gebärdensprache „Vertrauen“ ausgedrückt wird, doch ich weiß, wie ich mit „Augen-Blicken“ darum bitten kann.
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Hmmja, ich staune immer wieder, vor allem bei mir selbst, wenn ich erkenne, wie selten wir anderen in die Augen sehen, gerade auch beim Reden; immer wieder senkt sich der Blick, und vielleicht passiert es darum manchmal, dass man aneinander vorbeiredet…
Vielen Dank fürs Lesen und fürs Teilen und Mitteilen deiner Begegnung und deiner Gedanken…
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Die überlaufenden Augen und Ohren, man meint ja selber manchmal, es nicht mehr auszuhalten. Gut, daß er sich diese Auszeit nahm, sich erst auf sich besann. Vorher hätte er die stummschöne Frau wohl nicht gesehen, keine Zeit, in ihren Augen die Wahrheit zu erkennen. Eine wundervolle Geschichte, die irgendwie zu der Trilogie von Frau Viola paßt, als wäre sie der perfekte Abschluß. Ich lese gleich alles nochmal hintereinander weg. Herzliche Grüße, Ihre Frau Knobloch.
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Ja, vielleicht hätte er die stummschöne Frau zuvor nicht gesehen, hätte nicht genau hingeschaut, hätte ihr wortlose Sprache nicht verstehen können…. Vielen herzlichen Dank fürs Lesen und das Wundervollfinden und die Worte…
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berührende geschichte. vielleicht schreibst du ja mal einen zweiten teil dazu, denn ich lese gern von männern, die sich verliebt haben, das lese ich nicht so häufig aus der perspektive. (zuletzt bei bukowski, meine ich mich zu erinnern). das problematische am wort sabbatical ist wohl, dass es keine einfache übersetzung ins deutsche gibt, die dasselbe sagt und bedeutet, oder? ich wüßte jedenfalls keines. auszeit? das trifft es nicht. jedenfalls – schöner erzählstil.
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Von Bukowski das Verliebtsein erzählt zu bekommen dürfte auch zweifellos anders (und spannender) sein als, keine Ahnung, von Nicholas Sparks oder so… Und Sabbatical, naja, Auszeit ist sicher nicht weit daneben, steht auch da, doch vielleicht steckt beim Sabbatical mehr In-sich-Gehen drin, irgendwie… Jedenfalls und überhaupt; vielen Dank fürs Lesen und für deine Gedanken…
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eine ebenso interessante wie schöne Geschichte, eine, für die das Wörtchen schön eigentlich total falsch ist, sie ist voll tiefem Sinn,also ist sie tiefsinnig, doch dieses Tiefsinnig klingt schon wieder falsch.
Eine Geschichte, die aufmerksam gelesen werden möchte auf jeden Fall, die geradezu nach Gehörtwerden schreit, obwohl sie doch zu lesen ist.
In falscher Umgebung leben zu müssen, immer gegen die eigenen Gedanken antreten zu müssen, schwächt zu sehr und er entzog sich, fand einen guten Ausweg, den in das Stumme, ins Verstummen hinein, um so wieder zu sich selbst finden zu können.
Nun hoffe ich, daß SIE ihn richtig versteht, in seinen Augen das Wahre findet und ER mit der wirklich Gehörlosen endlich ein erfülltes Leben finden kann. Es wäre zu schön…
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs aufmerksame Lesen und für deine Gedanken zum Gelesenen und darüber hinaus… Den Ausweg, um zurück zu sich zu finden; sehr schön beschrieben…
Ja, ich hoffe und glaube, wenn sie genau in seine Augen schaut, wird sie die Wahrheit und deren Wert (für ihn und für sie) erkennen…
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Ganz tolle Geschichte. Tolles Ende.
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Das Tollfinden, es freut mich sehr… Vielen lieben Dank dafür…
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Erst einmal die Wiederholung, dass ich sehr angetan bin von der Geschichte (wenn ich mir auch erlaube, zu sagen, dass mir das Wort „Sabbatical“ darin nicht so recht passen bzw. gefallen will). Doch eigentlich ist die Geschichte zu kurz. Sie will lang erzählt werden.
Zu den Assoziationen: Ich musste zuerst an ein Stück von Strindberg denken (ich weiß nicht mehr welches), in dem ein Mann in geselliger Runde allen Anwesenden einmal die ungeblümte Wahrheit ins Gesicht sagt und dafür von diesen in eine Heilanstalt gesteckt wird. Mir kam ebenso Frischs „Gantenbein“ in den Sinn. Und außerdem noch (ich erspare Ihnen und mir eine ausführende Erklärung) eine Geschichte aus einem Spiderman-Comic.
Wie auch immer, Ihre (leider zu kurze) Geschichte über Wahrheit und Wahrhaftigkeit (Seelenhaftigkeit) gibt mir einigen Grund zum Nachdenken. Und das tue ich gern.
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Die Assoziationen sind wunderbar. Das Stück von Strindberg ist mir (wenig überraschend) völlig unbekannt, doch es klingt sehr spannend, ich würde es gerne sehen. Den Gantenbein will ich mal wieder lesen, hatte ihn aber nicht im Kopf. Und die ausführende Erklärung zum Spiderman-Comic, sie würde mich natürlich interessieren, doch das Ersparen gönne ich Ihnen natürlich von Herzen.
Das Wort Sabbatical, ja, ich war sehr unschlüssig. Ich habe es wohl in meinem gesamten Leben noch nie benutzt, weder geschrieben noch gesagt. Doch beim Verfassen fiel es mir ein. Vielleicht ist es fehl am Platz, aber es ist eben auch nicht komplett falsch. Nun ist es mal drin. Vielleicht geh ich mal noch in mich (im Rahmen eines Sabbaticals oder so) und ändere es dereinst doch…
Dass Ihnen die Geschichte zu kurz erscheint, tut mir leid (was aber keine Entschuldigung ist). Ich schreibe (und lese und schaue) wohl lieber zu kurze als zu lange Geschichten. Dass Sie aber durch die Geschichte (trotzdem oder deswegen) zum Nachdenken angeregt wurden, freut mich umso mehr. Vor allem freuen mich Ihre Aufmerksamkeit, Ihr Lesen und Ihre Worte. Vielen Dank dafür!
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