Ihr Freund übergibt sich auf den Teppich, und sie ist entzückt, denn die zähe Masse aus Lebensmittelderivaten und Lagerbier ist in beeindruckender Form. «Oh, Schatz, schau!» japst sie begeistert. «Du hast ein Herz gekotzt! Das sieht doch aus wie ein Herz, oder?» Er nickt müde, doch er sagt nichts, es käme wohl nichts Gutes dabei raus. Er holt einen Lappen, damit sie seinen ehemaligen Mageninhalt aufwischen kann, doch sie zögert. Das Herz sei doch so schön, meint sie. Er zuckt mit den Schultern.
Alles, was passiert, hat einen Sinn und seine guten Seiten, findet sie, und jeder Mensch ist eigentlich voller Liebe und Güte, auch wenn vereinzelte Personen dies aus unerklärlichen Gründen verbergen möchten. Die Situation, in der ihr ein greiser Mann mit seinem ebenso greisen Opel in die Heckpartie ihres beinahe neuen Autos kracht, sieht sie als Chance; ein anderes Fahrzeug würde wohl besser zu ihr passen und sie glücklicher machen. Als ihr Freund ihr seine Faust aufs Auge drückt, nimmt sie es hin und ihn in Schutz. Er sei doch ein Armer, er habe es halt nicht leicht, mit den Drogen und dem Alkohol und so, er könne doch nichts dafür.
Sie mag Schmetterlinge, und als sie ein besonders schönes Exemplar erblickt, erzählt sie allen davon. Ganz blau sei er, der leuchte richtiggehend, und ihre Augen leuchten ebenso in ihrer Freudetrunkenheit, und alle lachen. Sie versteht den Witz nicht, aber sie lacht ebenfalls, und dann schütteln die Leute langsam ihre Köpfe, also reduziert sie ihr Lachen zu einem Lächeln und erzählt von irgendwelchen Tierkindern, sie seien doch so süß, und bald hört niemand mehr zu.
Zu Hause sagt ihr Freund, dass er Geld brauche. «Wofür denn?» will sie wissen, doch er findet, das habe sie nicht zu interessieren, und natürlich hat er Recht. Als die Sparbüchse leer ist, verkauft sie einige ihrer Habseligkeiten, doch es reicht nicht. Sie veräußert ihren Wagen, der mittlerweile repariert ist, dann ihre Möbel, bis die Wohnung leer ist, abgesehen von zwei Stühlen. Schließlich verkauft sie auch noch ihre Kleider, bis sie nackt in ihren vier Wänden sitzt, zwischen den Stühlen. Sie setzt sich auf keinen der beiden, denn es könnte sich ja Besuch anmelden, und dem wolle sie dann doch einen Platz anbieten können.
Irgendwann kommt ihr Freund, er ist wütend, betrunken und abgebrannt. Sie erklärt, dass nichts mehr da sei, sie habe nichts mehr. Er mag ihr nicht glauben, doch nach ihren wiederholten Beteuerungen sieht er es ein und meint, sie sei nicht nur eine dumme Kuh, sondern auch eine arme Sau. Dann lacht er, schnappt sich einen der Stühle, verlässt die Wohnung und sie. Alles ist still, und sie sitzt nackt auf dem Boden, neben einem toten Schmetterling und dem verbleibenden Stuhl, neben dieser letzten Sitzgelegenheit, und dann fragt sie sich, was sie wohl wert sei.
schamlos ausgenutzt – denke ich und überlege, wo die allerletzte Grenze hätte sein müssen… und weiß es nicht so recht. Mit Sicherheit aber dort, wo sie das letzte Hemd hergab, war doch schon so lange vorher die „Liebe“ gestorben oder ist sie nur geflohen von einem Ort, an dem es keine gab, nur Opfer, die angenommen wurden, achselzuckend, menschen- und ehrverletzend .
Außerordentlich gut dargestellt, lieber Disputnik
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Vielen lieben Dank für deine Worte, liebe Bruni… Ja, das Ausnutzen geschieht meistens schamlos, und auf der anderen Seite fragt man sich, warum sich manche Menschen eben derart schamlos ausnutzen lassen.
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die Energie, die es zum Auflehnen braucht, ist ganz erheblich, nicht zu unterschätzen, u. wenn sie fehlt, dann passiert das, was Du so gut beschreibst
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Ja, es braucht viel Energie, zweifellos… Nochmals vielen Dank für deine Gedanken, liebe Bruni…
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Hat dies auf Hartmut Gülink rebloggt.
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Vielen lieben Dank für Rebloggen!
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Die Wut und die Traurigkeit wurden bei jedem lesen größer, bis sie aus meinen Augen brachen….trotz all der Wut und Traurigkeit, wie immer wunderschön geschrieben.
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Den Co-Abhängigen, in der Regel nahe Angehörige eines Alkoholikers oder anderweitig Süchtigen, wird in der Regel wenig Beachtung geschenkt, was die jeweilige Situation noch schwieriger macht, als sie bereits ist. Du hast das hier sehr treffend dargestellt ..
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Danke dir für deine Worte… Und ja, die angesprochene fehlende Beachtung ist wohl weit verbreitet (der Text macht sich ihrer ja auch ein wenig schuldig), was die Situation für unmittelbar Beteiligte kaum erleichtern dürfte…
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je mehr ich las, desto mehr Schmerzen bekam ich, psychische sowieso aber auch schier körperliche, denn so viel „Selbstaufopferung“ ist mir vollkommen unverständlich, geradezu masochistisch, und da dreht sich bei mir dann deshalb der Magen um und ich spucke Gift und Galle gegen ihn!
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Ich versteh dich, lieber Finbar, auch mir ist dieses ausgeprägte und zweifellos ungesunde Mass an Selbstaufopferung bei einigen Menschen unverständlich. Und doch geschieht es, vielleicht nicht in der beschriebenen Ausprägung, aber eben doch allzu häufig und nicht selten noch schlimmer. Und ich weiss nicht, ob man lieber dem Ausnutzenden oder der Aufopfernden den Kopf waschen soll, doch meistens bleiben wohl beide Köpfe ungewaschen und nur der eigene Kopf geschüttelt…
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