Wann und weshalb es begann, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Am Anfang waren es lediglich einige Streichhölzer, die er aufeinanderlegte und sich freute, wenn ein kleiner Turm entstand. Dann räumte er sie wieder weg und ging aus, traf sich mit Freunden, lebte sein Leben. Es war ein gutes Leben, manchmal etwas schroff an den Kanten, ansonsten aber durchaus lebenswert. Es gab keinen Grund, es zu negieren.
Irgendwann wurden die Türme höher, breiter. Er entwickelte einen gewissen Ehrgeiz beim Erbauen der Gebilde, und jedem Streichholz ließ er besondere Aufmerksamkeit zukommen. War ein Turm dreißig Zentimeter hoch, sollte der nächste einen halben Meter in die Höhe ragen, dann vom Boden bis zur Tischplatte reichen. Er wurde stetig geübter im Stapeln der kleinen Hölzer, und ebenso stetig wuchs sein Bestreben, noch besser zu werden. Während er ausgefeilte Bauwerke konstruierte, die nichts mehr mit den dilettantischen Anfängen zu tun hatten, fiel ihm kaum auf, wie sein Leben, das gute, sich allmählich dekonstruierte.
Immer seltener traf er seine Freunde, und nicht wenige ließen von ihm ab, nachdem er zum wiederholten Male nicht auf ihre Anrufe und Annäherungen reagiert hatte. Ihm war dies relativ egal, für ein eigentlich nachvollziehbares Bedauern hatte es in seinem Kopf keinen Platz, zu sehr war er auf seine Streichholzgebilde fokussiert. Zwischen dem Aufwachen am Morgen und dem Einschlafen mitten in der Nacht kreisten seine Gedanken unaufhörlich um seine Bauten, im Vergleich zu den Streichhölzern verblasste alles andere zusehends. Er hörte auf, sich die Zähne zu putzen, trug tagelang die gleichen Kleider, rasierte sich nicht mehr. Bei seinem Arbeitgeber meldete er sich regelmäßig krank, bis dieser die Konsequenzen zog und ihn entließ. Ihn kümmerte dies nicht sonderlich, vielmehr freute er sich, dass er sich noch intensiver seinen Streichhölzern widmen konnte. Obwohl, von Freude konnte keine Rede sein.
Die wenigen Menschen, die sich noch für ihn interessierten, belog er mit wachsender Beständigkeit, um sich in Ruhe in seine Streichholzbauten vertiefen zu können. Er zog den Telefonstecker aus der Wand, verriegelte Türen und Fenster, hatte seinen Schlaf auf höchstens zwei Stunden pro Nacht reduziert. In der restlichen Zeit baute er. Manchmal klingelten seine Eltern so hartnäckig bei ihm, dass er sie hereinlassen musste, aber nicht, ohne zuvor das Zimmer mit den Streichholzgebilden abzusperren. Er gab sich Mühe, um den Anschein zu wahren, dass ihm daran gelegen war, wieder ins Leben zurückzufinden. Doch eigentlich wusste er nicht, was er dort verloren hatte.
Eines Tages füllten die Streichholzgebilde seine ganze Wohnung aus. Es gab keinen Winkel, den er noch bebauen konnte, keine Form, die er nicht bereits konstruiert hatte. Benommen trat er ins Freie, blickte sich um. Er sah verschwommene Konturen, grelle Farben, merkwürdige Flächen, und nichts davon war ihm vertraut, alles war fremd, leer, furchteinflößend. Er drehte sich um und ging wieder in seine Wohnung. Seltsam betäubt setzte er sich auf die einzige freie Stelle des Fußbodens, lauschte dem Rauschen in seinen Ohren und dem Wind vor dem Fenster, während der Tag allmählich starb.
Als die ersten Streichhölzer zu zittern begannen, blieb er erstarrt sitzen. Das Knacken in den Verstrebungen wurde lauter, einige Türme und Pfeiler schwankten bedrohlich, doch er rührte sich nicht. Dann schloss er die Augen. Er versuchte zu denken, sich Dinge vorzustellen, Menschen, Bäume, einen See. Aber alles wirkte seltsam statisch, sofern er überhaupt etwas erkennen konnte. Plötzlich ließ ihn ein unvermitteltes Krachen leicht zusammenzucken. Er hätte die Augen öffnen können. Doch es hätte nichts geändert. Also wartete er.
Schließlich schob er die Lider auseinander. Alles war dunkel, die einzige Lampe im Raum war zerborsten. Unter seinen Händen spürte er einige Streichhölzer. Er wusste, was zu tun blieb. Und er wusste, was darauf folgen würde. Er drehte ein Streichholz zwischen seinen Fingern. Wann und weshalb es begann, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber irgendwann musste es enden. Wie auch immer.
Art by Ryo Shimizu
Ich liebe deine Texte bzw. Geschichten, wie immer ausgezeichnet. Ich frage mich nur woher du diese Ideen hast. …
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Vielen Dank für deine Worte! Die Ideen, sie kommen wohl vom Leben. Meistens reicht es, einfach hinzuschauen und sich ein paar Gedanken dazu zu machen…
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Bedrückend und beeindruckend. Gefällt mir sehr.
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Vielen lieben Dank dir für deine Worte!
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eine Sucht, die alles ausfüllt, keinen Ram mehr für anderes läßt… Harmloser, wie zufälliger Beginn. Die Realität entfernt sich oder er sich von ihr. Es ist gleich, denn sie kennen sich nicht mehr. Das Schlimste ist eigentlich, daß er seine Einsamkeit nicht erkennt, bis zu einem Punkt, an dem erwacht u. es zu Ende bringt, das was so harmlos begann…
Ein bedrückender Text, der gar nicht realitätsfremd ist, denn kaum einen gibt es, der Sucht nicht kennt und diese Vereinsamung, die sie mit sich bringen kann. Natürlich kennen wir alle jemanden, der ähnlich ist, oder wir kennen jemanden, der einen kennt, wir selbst sind es nie…
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Doch, manchmal sind wir selbst so… Vielen lieben Dank für deine tiefen und wahren Gedanken und das Teilen derselben, liebe Bruni….
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Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mit gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich 🙂 rebloggt.
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Danke!
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Gerne! Bild und Text beides beeindruckend. Habe mich gefragt, wie oft uns Texte zu Streichholzgebilden werden, von denen wir nicht mehr ablassen können.
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Bei mir liegt in den Texten kaum ein Zwang, höchstens ein Drang. Was gut ist…
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Sehr gut:)
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So einen Typen kenne ich auch. Einen Bierdeckelmann. Furchtbar, der Kerl. Ich frage mich, wie seine Geschichte nach deiner Vorlage enden könnte. Verschluckt er die Pappdeckel? Spaltet er seinen Schädel mit den Bierdeckeln? Wahrscheinlich stirbt er eher aus Langeweile…
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Der Bierdeckelmann klingt gut. Also furchtbar. Also eben gut. Erzählst mal von ihm?
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Wenn Säufer in Eckkneipen, die zudem einen dreibeinigen Hund besitzen nicht all zu abschreckend sind, dann ja.
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Dreibeinige Hunde sind nie abschreckend.
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wow.
Du kannst einem also auch einen Schauer der Angst und Beklemmung über den Rücken jagen, wenn Du willst.
Es erinnerte mich von der Stimmung her ein klein wenig an Kaffkas Verwandlung….
Schon bevor ich die Bilder dazu sah.
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Für den Schauer entschuldige ich mich, lieber Joachim, war keine Absicht (oder doch, ich weiss nicht…). Umso mehr vielen Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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