Letzthin lief mir eine Maus über die Leber. Lief einfach drüber, ohne Vorwarnung. Ich erschrak ein wenig, denn man rechnet ja nicht mit derartigen Passanten. Eine Laus wäre zweifellos weniger überraschend gewesen, zumal in Sprichwörterbüchern von solchen Ereignissen berichtet wird. Leider werden Sprichwörterbücher von Mäusen und Menschen nur selten gelesen, weshalb wohl auch mein ungebetener Gast keinen Gedanken daran verschwendete, einer Laus den Vortritt zu lassen. Dass die Marschroute der Maus direkt über meine Leber führte, war nicht sonderlich angenehm, vornehmlich aufgrund der geografischen Koordinaten des besagten Organs, aus welchen sich in diesem Fall eine Lage im Innern meines Körpers errechnen lässt. Zudem schien das lauffreudige Nagetier die Fußpflege zuverlässig vernachlässigt zu haben, anders konnte ich mir die langen Zehennägel nicht erklären, die sich mitunter in der weichen Masse meiner Leber verfingen. Trotzdem bewahrte ich eine gewisse Contenance, vor allem, weil ich den Begriff Contenance sehr schätze und seiner Eleganz nicht verlustig gehen wollte. Nachdem sie meine Bauchhöhle verlassen und sich zwecks Körperhygiene auf einen freien Stuhl gesetzt hatte, fragte ich die Maus höflich nach dem Grund ihrer Visite, doch sie blieb mir eine Antwort schuldig. Stattdessen schaute sie ein wenig einfältig aus der Wäsche, obschon sie keine Wäsche trug, weder Tageswäsche noch Nachtwäsche, schon gar nicht Reizwäsche, niemand fertigt Reizwäsche für Mäuse, es gibt keinen entsprechenden Markt, kein Angebot, keine Nachfrage, und auch die Maus, die über meine Leber gelaufen war, schien sich nicht für Dessous zu interessieren, sondern schaute, wie erwähnt, ein wenig einfältig. Ich bemühte mich trotzdem um einen Dialog, schließlich hatte mir eine psychotherapeutische Fachkraft einst geraten, mich kommunikativer zu gebärden, doch die Maus schwieg. Kein Wort brachte sie über ihre Lippen, wobei anzumerken ist, dass diese Lippen schrecklich winzig waren und entsprechend auch die Buchstaben eher zurückhaltend dimensioniert hätten sein müssen, was vielleicht erklärt, weshalb die Maus keine Maus der großen Worte war. Aber wenigstens kleine Worte wären wünschenswert und durchaus zu erwarten gewesen, die Maus jedoch beharrte auf ihrer diesbezüglichen Reserviertheit. Nur zu gerne hätte ich ihr die Adresse meiner ratschlagenden psychotherapeutischen Fachkraft genannt, doch ich fand beim Kramen in Erinnerungen nicht einmal deren Namen, außerdem bezweifelte ich, dass die Maus zu einer entsprechenden Behandlung bereit gewesen wäre. Nach einigen weiteren erfolglosen Versuchen, die Schweigemauer einzureißen und die Maus zumindest zu einem einfachen Gruß zu bewegen, beschloss ich, ebenfalls und äußerst demonstrativ auf verbale Äußerungen zu verzichten und noch viel demonstrativer meine Arme vor der Brust zu verschränken. Ein stummer Protest gegen das haltlose Verhalten der Maus. Ein Verhalten, das mich zuerst verwirrte, dann aber vor allem verärgerte. Ich hatte richtig schlechte Laune, als ich im Versuch, meinem Körper die Symbolwirkung einer geballten Faust zu verleihen, vor der kleinen Maus stand und beharrlich schwieg. Sie sollte spüren, wie ich mich fühlte, sollte die Wut in meinen Augen sehen und durchaus registrieren, dass ich nach anfänglicher Sympathie nun vor allem Abscheu für sie empfand. Ob mein Protest tatsächlich die gewünschte Wirkung erzielte, lässt sich leider nicht eruieren, denn die Maus hüpfte in gespielter Beiläufigkeit vom Stuhl und eilte aus meinem Blickfeld. Ich blieb sprachlos vor dem Stuhl stehen, als kleinste aller möglichen Widerstandsbewegungen, allein mit meiner schlechten Laune und dem Gefühl, ein wenig einfältig aus der Wäsche zu schauen.
*lächel entzückt*
was für ein schöner Läusemäuse- und Lebertext.
Wohl dem, der seine Gedanken so verpacken kann, wie Du es kannt und es GottseiDank auch tust.
Ich muß gestehen, auch ich liebe dieses Wort, es bietet sich aber nicht sehr oft die Gelegenheit, es anzuwenden: Contenance
und vorgestern Abend verließ sie mich ganz und gar, diese Contenance und immer wieder passiert es mir mit Mäusen, die mir nicht über die Leber, aber im Wohnzimmer herumlaufen und eines kann ich Dir sagen, ich bin dann ganz und gar nicht mehr still, aber die Maus hat derweil ganz anderes in ihrem Sinn, sie muß sehen, wie sie der Katze entflieht, die sie liebenswürdigerweise als Gastschenk mitgebracht hatte, dabei müßte sie langsam wissen, daß mich ein wundervoller kleiner und feiner Gedichtband sehr viel mehr gefreut hätte.. 🙂 LG
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Liebe Bruni, vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Ich bin froh, dass du deine Contenance so weit wiedergefunden hast, um die kurze Geschichte zu lesen, und ich hoffe sehr, dass deine Katze deine Geschenkwünsche in Zukunft besser berücksichtigt und dir Bücher statt Mäuse mitbringt. Würde ja auch den Mäusen entgegenkommen…
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*lach*, bestimmt kommt sie das nächste Mal mit einer noch „schöneren“ Maus…
Ich vermute stark, sie mag keine Lyrik 🙂
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Klasse! … was mich an eine Nacht erinnert, in der mir eine Maus übers Gesicht lief… mein aufrichtiges Beileid für die Kollission mit einer gesprächsresistenten Maus… lg t
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Muss eine seltsame Begegnung gewesen sein, die Maus zu Gast im Gesicht… Danke für deine Worte…
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*lächel*
ab damit in die schulbücherredaktionen!
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Ja gerne… Dankdank für deinen Kommentar, lieber Finbar…
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Herrlich… Danke!
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Danke auch! Für den herrlichen Kommentar…
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