Wenn in einem gut besetzten Zugabteil ein offensichtlich leicht geistig behinderter Mann sehr laut und sehr falsch singt, ist es angebracht, verärgert und genervt zu reagieren und gegebenenfalls mit Nachdruck um Ruhe zu bitten.
Natürlich tut man es nicht. Man weist keine behinderten Menschen zurecht, man hindert sie nicht daran, ihre Gefühle in akustischer Form auszudrücken, man nimmt Rücksicht auf ihre Beeinträchtigungen. Und das ist gut so. Eigentlich. Schließlich sehen sich Menschen mit Behinderungen vielerorts mit Schwierigkeiten konfrontiert, verfügen zum Teil nicht über die gleichen Möglichkeiten wie wir, die wir keine geistigen oder körperlichen Nachteile zu beklagen haben. Also verdienen diese Menschen eine besondere Behandlung. Eigentlich.
Aber eben, eigentlich. Denn was diese Menschen wirklich verdienen, ist vor allem, dass sie genau als das gesehen werden. Als Menschen. Wie du und ich, wie alle anderen. Doch wir tun uns schwer damit. Wir definieren den leicht geistig behinderten Mann im Zug nicht über sein Menschsein, sondern über die Schublade, in die wir ihn stecken. Dabei meinen wir es gut, wir möchten so achtsam und taktvoll wie möglich sein. Doch am Ende ist es dann trotzdem vielleicht nur Intoleranz, die wir zeigen. Wenn auch eine positiv aufgeladene.
Die Behinderung, ihre Behinderung, sie entstand meist bei der Geburt, manchmal auch im weiteren Verlauf ihres Lebens. Doch eigentlich entsteht sie in unseren Köpfen. Wir setzen die Maßstäbe, und sie, die ihnen nicht genügen, sehen sich mit unseren Urteilen konfrontiert, mit unseren Blicken. Mit Blicken, die meistens von oben herab verlaufen oder von der Seite auftreffen, häufig beseelt von Mitleid, manchmal auch von einer gewissen Beklemmung. Ich weiß nicht, was diese Blicke in jenen auslösen, die von ihnen getroffen werden. Ich weiß nur, dass ich nicht unbedingt in diesem Schussfeld stehen möchte.
Einst war ich im Krankenhaus, wegen einer Operation am Bein. Nach dem Eingriff konnte ich noch nicht selbständig gehen und musste gestützt werden, als ich zur Toilette wollte. Ich war in gewisser Weise behindert, war auf Hilfe angewiesen. Doch ich war noch immer der gleiche Mensch. Und wollte auch so behandelt werden. Natürlich lässt sich eine lächerliche Operation in vielerlei Hinsicht nicht mit einer lebenslangen Behinderung vergleichen. In einem Punkt aber schon; die Umstände ändern nichts am Menschsein. Sollten es jedenfalls nicht.
Wenn nun also in einem gut besetzten Zugabteil ein offensichtlich leicht geistig behinderter Mann sehr laut und sehr falsch singt, wäre es tatsächlich angebracht, verärgert und genervt zu reagieren und gegebenenfalls mit Nachdruck um Ruhe zu bitten. Zumindest dann, wenn man sich so verhalten würde, wenn der Sänger keine augenscheinliche Behinderung aufweisen und dem entsprechen würde, was wir allzu oft als normal bezeichnen. Doch meistens lächeln wir milde und verwirrt, tauschen vielsagende Blicke mit den anderen Menschen im Zug aus. Nur mit den Menschen. Denn dem Sänger sehen wir nicht in die Augen.
Ich stelle fest, dass behinderte Menschen von nicht behinderten entweder auf ein Podest gehoben werden und besonders gelobt oder herabgesetzt werden und mitleidig belächelt.
Dazu gibt es einen guten alten Spruch: Behandle andere Menschen so, wie du behandelt werden willst. Eine Revolutionäre Idee: Behandle behinderte Menschen auf gleicher Augenhöhe.
Wie wäre es, dem falsch singenden Mann freundlich, höflich und in einfachen Worten (er wird als geistig behindert beschrieben), ohne Ärger und Druck zu sagen, dass er bitte aufhören soll?
Behinderte Menschen sind nämlich nicht behindert, um andere zu ärgern oder zu nerven. Sie sind einfach so.
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Vielen Dank für deinen Kommentar… Stimme dir absolut zu, vor allem, was die ungleiche Augenhöhe betrifft. Der Idealfall wäre wohl, dass sich alle bedingungslos auf gleicher Augenhöhe begegnen, aber dabei scheitern wir wohl allzu oft. Und im Umgang mit behinderten Menschen kommen dann Aspekte wie Unsicherheit, (Berührungs-)Angst und Unverständnis dazu, was die Sache zusätzlich erschwert.
Den guten alten Spruch, den du erwähnst, wir sollten ihn wohl häufiger aus der Schublade kramen. Das würde vielleicht auch ein wenig verhindern, dass wir die Schubladen auch für Menschen benutzen.
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gibt es das überhaupt, das „Richtige“ oder das „Normale“ ?
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Ich glaube nicht, höchstens als Idee, als theoretisches Konstrukt. Und wenn es das Richtige und das Normale gäbe, wäre die nächste Frage wohl, wer bestimmen würde, wie man sie definiert…
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als Mensch sehen wir ihn schon, davon bin ich überzeugt, doch wir sind unsicher, wissen EIGENTLICH nicht, wie wir reagieren sollen und deshalb lassen wir es.
Den Augenkontakt vermeiden wir wohl aus dem gleichen Grunde.
Du hast ein schwieriges Kapitel angesprochen, das mich an einen Vorfall erinnert, als meine Töchter Kinder waren. Die Jüngere hatte in ihrer kleinen Flötengruppe ein behindertes Mädchen mit dabei und diese wurde von der Lehrerin immer wieder sehr gelobt und meine Tochter nie. Sie beschwerte sich dann sehr bei mir und ich versuchte es zu erklären, aber es ist mir verdammt schwer gefallen, weil ich es auch nicht gerecht fand. Und genau so verhalten wir uns alle. Wir wissen nicht recht, wie wir mit behinderten Menschen umgehen sollen und haben Angst, uns „falsch“ zu verhalten. Also verhalten wir uns lieber erst gar nicht. Wir halten uns nur zurück… und auch das ist schon wieder falsch.
LG vn Bruni
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Vielen Dank für deinen Kommentar und deine Gedanken, liebe Bruni. Ja, denke auch, dass die Angst davor, etwas falsch zu machen, uns häufig hemmt, auch in Bezug auf den Umgang mit behinderten Menschen. Vor allem, wenn man gar nicht wirklich weiß, was eigentlich richtig ist. Und ob es dieses Richtige überhaupt gibt.
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es ist ja wohl „leichter“ wegzugucken, wegzugehen, als eine vermeintlich „unangenehme“ situation „durchzustehen“…
eigentlich gehörten ab und zu ALLE menschen mal für eine weile
in eine gezielte verhaltenstherapie *haha*
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Ja, leichter ist es, einfacher. Und wir nehmen ja meistens die bequemen Wege…
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